„Ich erlebe eine dreifache Diskriminierung“

Vielfalt im deutschen Film – dazu hat die FilmFacts-Redaktion recherchiert! So ist eine Interviewserie entstanden, die nun wöchentlich erscheint. Mit Sheri Hagen haben wir über Intersektionalität und neue Geschichten gesprochen

Sheri Hagen: "Durch Bildung und Dekonstruktion kann man in der Gesellschaft Verbindlichkeit schaffen. Wir brauchen ein neues Schulsystem - Vielfalt in Bildung und Ausbildung."
Sheri Hagen über notwendige Veränderungen. | Bild: Sheri Hagen

Im vergangenen Jahr hat die MFG eine umfangreiche Diversitäts-Umfrage der Initiativgruppe „Vielfalt im Film“ mitfinanziert. Zu ihren persönlichen Erfahrungen wurden über 6.000 Filmschaffende in Deutschland befragt. Die im Frühjahr veröffentlichten Ergebnisse sind eindeutig: Diskriminierung durchzieht die Branche. In der aktuellen Ausgabe der FilmFacts berichten wir ausführlich zu diesem Thema und legen den aktuellen Entwicklungsstand dar. Dafür haben wir u. a. Interviews mit Vertreter*innen der Initiativgruppe und anderen Branchenmitgliedern mit unterschiedlichen Vielfaltsbezügen geführt. Die Interviews veröffentlichen wir nun in voller Länge in unseren News. Lesen Sie hier weitere Interviews.

 

Schauspielerin und Regisseurin Sheri Hagen ist Mitinitiatorin von „Vielfalt im Film”. Mit ihrer Produktionsfirma „Equality Film” erzählt sie Geschichten unterrepräsentierter Menschen – wie auch in ihrem Debüt „Auf den zweiten Blick”. 

 

Konnten Sie selbst Defizite in Fragen der Gleichberechtigung und Vielfaltstoleranz in der Branche feststellen? Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?

Ich erlebe eine dreifache Diskriminierung – Alter, Geschlecht und Hautfarbe. Bis heute kenne ich keine Formate, in denen Menschen, wie ich – weiblich, alt, dunkelhäutig – selbstverständlich zu sehen sind. Menschlich gezeigt werden mit Familien, Freunden, romantischen Interessen und Hintergrundgeschichten, die nicht für die weiße Mehrheit erklärt werden müssen. Auch fehlen die Unterrepräsentierten völlig hinter der Kamera in den wichtigsten Schlüsselpositionen, insbesondere die Dunkelhäutigen.

 

Zeichnet sich seit Publikation der Studie „Vielfalt im Film“ denn eine Entwicklung ab? 

Es wird viel geredet und wenig gehandelt. Ich bin froh über die Schritte der z. B. Filmförderung Hamburg-Schleswig-Holstein Moin mit der Diversity Checklist oder darüber, dass beim NDR-Tatort (Regie von Mia Spengler, Producerin Sophia Ayissi Nsegue) der Inclusion Rider angewandt wurde. Dennoch reichen bei weitem diese kleinen Schritte nicht aus. Alle Entscheider*innen müssen in die Verpflichtung genommen werden, Vielfalt im Film und Gendergerechtigkeit zu fördern und zu festigen. 

 

Wo sehen Sie noch Schwachstellen?

Ich sehe mehr Unterrepräsentierte vor der Kamera, auch wenn sie in erster Linie nur dazu dienen, die Inhalte der Mehrheitsgesellschaft zu erzählen. Dennoch ist deren Sichtbarkeit wichtig und die Schauspieler*innen kommen so in Lohn und Brot. Inhaltlich gesehen würde ich mir mehr Mut für einen Perspektivwandel wünschen. Geschichten der Unterrepräsentierten zuzulassen, ohne dass diese sich ständig erklären müssen.

Und wir brauchen dringend auch die Unterrepräsentierten hinter der Kamera, auch Dunkelhäutige, damit sich Ton und Verhalten ändern, eine andere Selbstverständlichkeit eine Chance bekommt und wachsen kann.

 

Wie engagieren Sie sich für Diversität im Film und gegen Diskriminierung persönlich?

Mit eigenen Geschichten und Filmen, die die heutige Gesellschaft reflektieren und dadurch formen, wie es zum Beispiel mein Debütfilm Auf den zweiten Blick” tut. Meine Produktionsfirma Equality Film konzentriert sich darauf, Geschichten von unterrepräsentierten Menschen zu erzählen (www.equalityfilm.com). Außerdem engagiere ich mich beim Bundesverband Regie, den Schwarzen Filmschaffenden, Pro Quote Film und Vielfalt im Film.

 

Wie kann man Verbindlichkeit schaffen in der Gesellschaft – langfristig?

Durch Bildung und Dekonstruktion. Wir brauchen ein neues Schulsystem: Vielfalt in Bildung und Ausbildung. Unser Schulsystem ist veraltet und tradiert. Viele Menschen unserer Gesellschaft, historische Fakten unserer Geschichte, tauchen nicht auf, werden nicht behandelt und nicht weitergegeben, als würden diese Menschen und Fakten nicht existieren. Es werden immer nur einseitige und die ewig gleichen Perspektiven wieder und wieder durchgekaut. Somit wachsen Generationen von Menschen auf, die weder gestern, noch heute, noch morgen sichtbar sein werden, sichtbar waren, wenn wir dieses System nicht ändern. 

 

Was würde dieser Ansatz aus ihrer Sicht für die Filmbranche bedeuten?

Förderinstitutionen müssen verstehen, dass es bei Geschichten und Filmen nicht nur um Gewinnmaximierung geht, sondern natürlich auch, und das ist der viel wichtigere Punkt, um eine gesellschaftliche Verantwortung, die im Wesen und in den Regeln einer öffentlichen Institution vorbildlich verankert sein muss. Jede Handlung und Entscheidung formt unsere Gesellschaft. Der deutsche Film zeigt ganz eindeutig, dass nur bestimmte Menschen im Publikum willkommen sind, nur für bestimmte Menschen produziert wird. Viele Menschen, die in der Gesellschaft existieren, existieren noch immer nicht in deutschen Filmen, nicht im Publikum! (Anm. d. Red.: Meinung der Interviewpartnerin)

 

Welche konkreten Maßnahmen würden Sie sich für kommende Produktionen wünschen, die die Situation unmittelbar verbessern würden?

Eine 50:50 Quote auf intersektionaler Basis für alle Filmförderinstitute, Fernsehsender, alle Formate vor und hinter der Kamera, alle Gremien und Jurys. Auch für alle Filmschulen und Universitäten. Die Adaption der britischen Diversity Standards, Inclusion Rider, Intimacy Coaches und Mindfulness Trainer*innen am Set und in den Produktionen wäre wünschenswert. Außerdem Programme zum Ausbau der Kreativen, sowie des Nachwuchs. Auch brauchen wir Menschen und Programme, die unterrepräsentierte Talente, altersunabhängig, aufspüren und fördern. Da ist es auch wünschenswert, dass die Deutsche Filmakademie konkret und umgehend tätig wird. Wir brauchen eine Förderung von unterrepräsentierten Menschen in Schlüsselpositionen. Die Gleichstellung des wirtschaftlichen Films und des künstlerischen Films, Film als Teil der Schulbildung. Diversität (Vielfalt in Film) und Gendergerechtigkeit müssen in den Filmfördergesetzen verankert werden.

 

Wen sehen Sie neben der Politik in der Verantwortung?

Alle Entscheider*innen, alle Filmförderinstitute, Fernsehanstalten, Streamer, Filmfestivals, Verleiher*innen, Filmunversitäten, -schulen und uns Kreative.

 

Das Interview führte Katrin Sikora.

  Aktuelle Ausgabe der FilmFacts: Close Up

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